Zusammenfassung
Überempfindlichkeitsreaktionen auf Arzneimittel sind individuell und unvorhersehbar. Sie werden in allergische und nicht-allergische Arzneimittelüberempfindlichkeiten eingeteilt: Arzneimittelallergien lösen Sofortreaktionen (Typ-I-Reaktionen, z.B. Urtikaria, Flush, Anaphylaxie) oder Spätreaktionen (Typ-II- bis Typ-IV-Reaktionen, z.B. makulopapulöse Exantheme, arzneimittelinduzierte Leber- oder Nierenschädigungen, Zytopenien) aus. Nicht-allergische Reaktionen ähneln einer Sofortreaktion, bleiben aber meist auf die Haut begrenzt. Eine anamnestisch mögliche oder wahrscheinliche Arzneimittelüberempfindlichkeit sollte allergologisch mittels Hauttestungen, In-vitro-Diagnostik und/oder Provokationstestung abgeklärt werden. Dieses Vorgehen ist allerdings zeitaufwendig und wird, u.a. wegen ungenügender Vergütung, nur in spezialisierten Zentren oder Praxen durchgeführt. Im klinischen Alltag werden daher vermutete Auslöser meist gemieden, was insb. bei der häufig angegebenen Penicillinallergie problematisch ist: Infektionen können nicht leitliniengerecht behandelt werden, alternative Antibiotika sind weniger wirksam, nebenwirkungsreicher und führen vermehrt zu Resistenzen. Daher wurden alternative Vorgehensweisen zur Einschätzung des Reaktionsrisikos entwickelt, um ggf. ein Delabeling zu ermöglichen. Besonders bedeutsam ist die Identifikation der auslösenden Substanz für Kinder, da die Medikamentenauswahl in dieser Altersgruppe ohnehin eingeschränkt ist.
Definition
- Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW, Arzneimittelunverträglichkeit): Treten zusätzlich zur beabsichtigten Wirkung des Arzneimittels auf und sind i.d.R. unbeabsichtigt und schädlich
- Unerwünschte Arzneimittelwirkungen Typ A (pharmakologisch-toxische Arzneimittelwirkungen, „Nebenwirkungen“): Bekannte, dosisabhängige und vorhersehbare weitere Wirkungen eines Medikaments
- Unerwünschte Arzneimittelwirkungen Typ B (Überempfindlichkeitsreaktionen): Individuelle, unvorhersehbare, i.d.R. dosisunabhängige Reaktionen auf ein Medikament bei disponierten Personen
- Arzneimittelallergie: Allergische Reaktionen nach Coombs und Gell
- Nicht-allergische Arzneimittelüberempfindlichkeit : Symptome einer Arzneimittelallergie ohne zugrunde liegende allergische Sensibilisierung
Epidemiologie
- Prävalenz von Arzneimittelüberempfindlichkeitsreaktionen: Ca. 1–6% [3]
- Häufigster Auslöser: β-Lactam-Antibiotika
- Geschlecht: ♀ > ♂
- Alter: In jedem Lebensalter auftretend
- Prozentuale Verteilung unerwünschter Arzneimittelwirkungen [2][3]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Übersicht Soforttyp-Reaktionen
Soforttyp-Reaktionen auf Arzneimittel | |||
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Klinisches Bild | Symptombeginn | Pathomechanismus | Beispiele auslösender Medikamente |
Anaphylaktische Reaktion: Bspw. Flush, Urtikaria, Angioödem, Bronchospasmus und Anaphylaxie |
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Die nicht-allergische Arzneimittelüberempfindlichkeit manifestiert sich typischerweise als Sofortreaktion und bleibt mit Flush und Urtikaria meist auf die Haut begrenzt!
Übersicht Spättyp-Reaktionen
Kutane Spättyp-Reaktionen auf Arzneimittel (Typ-IV-Reaktionen)
Kutane Spättyp-Reaktionen auf Arzneimittel (Typ-IV-Reaktionen) | |||
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Erkrankungen | Klinisches Bild | Symptombeginn | Beispiele auslösender Medikamente |
Makulopapulöses Arzneimittelexanthem |
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Fixes Arzneimittelexanthem (FDE) [4] |
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Generalisiertes bullöses fixes Arzneiexanthem (GBFDE) [5] |
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Kontaktekzeme |
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Fotoallergische Reaktionen |
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Drug Reaction with Eosinophilia and systemic Symptoms (DRESS) |
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Akute generalisierte exanthematische Pustulose (AGEP) [7] |
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Stevens-Johnson-Syndrom (SJS) / Toxische epidermale Nekrolyse (TEN) |
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Symmetrisches arzneimittelbezogenes intertriginöses und flexurales Exanthem (SDRIFE) |
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Lichenoides Arzneimittelexanthem |
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Zytopenien durch Arzneimittelüberempfindlichkeiten (Typ-II-Reaktionen)
Zytopenien durch Arzneimittelüberempfindlichkeiten (Typ-II-Reaktionen) | ||
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Klinisches Bild | Symptombeginn | Beispiele auslösender Medikamente |
Medikamenteninduzierte Agranulozytose [8][9] | ||
Medikamenteninduzierte Thrombozytopenie (DITP) [10] |
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Allergische hämolytische Anämie |
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Weitere Erkrankungen durch Arzneimittelüberempfindlichkeiten
Weitere Erkrankungen durch Arzneimittelüberempfindlichkeiten | |||
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Klinisches Bild | Beispiele auslösender Medikamente | Pathomechanismus | |
Serumkrankheit |
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Immunkomplexvaskulitis (medikamenteninduzierte Vaskulitis) [12] |
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Medikamenteninduzierte interstitielle Lungenerkrankungen (DILD) [13] | |||
Arzneimittelinduzierte akute interstitielle Nephritis [15] | |||
Medikamenteninduzierter Lupus erythematodes |
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Arzneimittelinduzierte lineare IgA-Dermatose (DILAD) |
Diagnostik
Ablauf
- Anamnese und ggf. körperliche Untersuchung
- Kein konkreter Hinweis auf eine Überempfindlichkeitsreaktion → Keine weitere Diagnostik
- Hinweise auf eine Überempfindlichkeitsreaktion
- Einteilung in Soforttyp- oder Spättyp-Reaktion
- Mögliche Auslöser eruieren
- Hauttest und in-vitro-Tests: Auswahl abhängig von möglichem Auslöser und Reaktionstyp
- Positives Ergebnis validierter Tests und passende Anamnese / passender klinischer Befund → Arzneimittelüberempfindlichkeit bestätigt
- Negatives Ergebnis → Provokationstest
- Provokationstest: Goldstandard, jedoch nicht für alle Reaktionsformen sinnvoll
- Positives Ergebnis → Arzneimittelüberempfindlichkeit bestätigt
- Negatives Ergebnis → Arzneimittelüberempfindlichkeit ausgeschlossen
- Ggf. abweichendes Vorgehen in bestimmten klinischen Situationen → Entsprechende Leitlinien beachten, z.B. Diagnostik perioperativer Soforttyp-Reaktionen [16]
Anamnese [17]
- Symptome
- Kutane und extrakutane Reaktionen sowie Allgemeinsymptome möglichst genau beschreiben (lassen), Fotodokumentation (ggf. vorliegende Fotos sichten)
- Verlauf (Dauer, Entwicklung), insb. nach Absetzen/Umstellen der Therapie
- Ansprechen auf etwaige therapeutische Maßnahmen
- Vorliegen begünstigender Faktoren: Bspw. Stress, Alkohol, Menstruation
- Dokumentation aller verwendeten Arzneimittel
- Inkl. Handelsname, Indikation, Dosierung, Dauer und Applikationsform
- Bei mehreren möglichen Auslösern Zeitstrahldiagramm erstellen
- Nebenwirkungen der Arzneimittel beachten
- Zeitliche Einordnung von Einnahmen und Symptombeginn
- An welchem Behandlungstag haben die Symptome begonnen?
- Für typische Zeitintervalle zwischen Einnahme und Symptombeginn siehe: Arzneimittelüberempfindlichkeitsreaktionen - Übersicht
- Wie viel Zeit lag zwischen Applikation und Symptombeginn?
- Wurde das Arzneimittel zum ersten Mal angewendet?
- Wurde das Arzneimittel zu einem anderen Zeitpunkt vertragen?
- An welchem Behandlungstag haben die Symptome begonnen?
- Begleiterkrankungen: Insb.
- Bisherige bekannte Allergien und vorherige Testungen
- Akute Erkrankungen (v.a. Infektionen) zum Zeitpunkt der Reaktion
- Disponierende Vorerkrankungen, bspw. atopische Erkrankungen, chronische Urtikaria, Mastozytose, immunsupprimierende Infektionen, chronische Entzündungen
- Grunderkrankungen mit ähnlichen Symptomen einer Überempfindlichkeitsreaktion
- Laborwerte und weitere Befunde anfordern
Ist eine Überempfindlichkeitsreaktion auf ein Arzneimittel aufgrund der Anamnese sehr unwahrscheinlich, kann auf eine Testung verzichtet werden!
Eine mögliche Arzneimittelüberempfindlichkeitsreaktion sollte immer allergologisch abgeklärt werden!
Allergologische Testungen
- Ziel
- Identifikation von Auslösern und möglichen Kreuzallergenen oder
- Ausschluss einer Überempfindlichkeit bzw. Verträglichkeitsnachweis des vermuteten Auslösers
- Ggf. Identifikation von Ausweichsubstanzen
- Ggf. Verbesserung der Lebensqualität
- Indikation: Jeder anamnestisch begründete V.a. eine Arzneimittelüberempfindlichkeitsreaktion
- Ggf. erneute Testung bei
- Bekannter Arzneimittelallergie und sehr lang zurückliegender Diagnostik
- Langjährig zurückliegender Sofortreaktion und damals unauffälligem Provokationstest, aber weiterhin bestehendem hochgradigen Verdacht
- Ggf. erneute Testung bei
- Durchführung: Durch Fachärzt:innen mit allergologischer Weiterbildung oder allergologisches Zentrum
- Zeitpunkt: Möglichst 4 Wochen bis 6 Monate nach Abklingen der Symptome
- Bewertung: Immer in Zusammenschau mit Anamnese, klinischen Befunden und Testergebnissen
Testungen sollen nur bei klinischem Anhalt auf eine Arzneimittelüberempfindlichkeit durchgeführt werden – eine „prophetische“ Testung zum Ausschluss einer möglichen zukünftigen Reaktion wird nicht empfohlen!
Hauttestungen
Allgemeines
- Begrenzte Aussagekraft
- Sensitivität und Spezifität abhängig von getestetem Arzneimittel und der Reaktionsform [19]
- Vorerkrankungen und Medikation beachten
- Testsubstanzen: Vermutliche Auslöser und kreuzreagierende Wirkstoffe
- I.d.R. keine standardisierten Testsubstanzen verfügbar
- Möglichst nicht-irritative Testkonzentrationen verwenden, um falsch-positive Ergebnisse zu vermeiden [20]
- Ggf. Schwellentest durchführen, um falsch-negative Ergebnisse zu vermeiden
- Sicherheit: Mögliche systemische Reaktion beachten
- Bei Testungen nach Sofortreaktionen Notfallausrüstung bereithalten, Patient:innen überwachen
- Ggf. zunächst verdünnte Testlösungen in ansteigender Konzentration anwenden
- Schwangere: Nur in Einzelfällen nach strenger Nutzen-Risiko-Abwägung bei dringlicher Indikation und in gynäkologischer Rücksprache
Testverfahren
- Bei V.a. Arzneimittelüberempfindlichkeit mit Sofortreaktion
- Pricktest
- Bei uneindeutigem Pricktest: Intrakutantest
- In Einzelfällen: Offener Epikutantest
- Bei V.a. Arzneimittelüberempfindlichkeit mit Spätreaktion
- Epikutantest , bei Bedarf Abriss-Epikutantest , Fotopatchtest
- Intrakutantest
- Für mehr Informationen zu den Testverfahren siehe: Allergiediagnostik mittels Hauttestung und Epikutantest
Ablesungen
- Bei Sofortreaktionen: Nach 15–20 min
- Bei Spätreaktionen und Exanthemen: Nach 48 und 72 h, ggf. zusätzlich nach 7–10 d
Bewertung
- Positive Reaktion: Bei passender Anamnese und klinischer Symptomatik ggf. Diagnosestellung einer Arzneimittelüberempfindlichkeit möglich
- Negative Reaktion: Weitere Testungen notwendig
Durch Hauttestungen können Sensibilisierungen gegen die getestete Substanz entstehen!
In-vitro-Diagnostik
- Indikation: Identifikation der Auslöser von Soforttyp-Reaktionen und Abgrenzung zu nicht-allergischen Überempfindlichkeitsreaktionen, insb. bei
- Negativem Hauttest
- Schweren Überempfindlichkeitsreaktionen, aufgrund derer keine Haut- und Provokationstestungen möglich sind
- Allgemeines
- Unzureichende Evidenz der Validität
- Validierte Tests nur für wenige Arzneimittel verfügbar
- Testverfahren
- Nachweis spezifischer IgE-Antikörper
- Ggf. Bestimmung der Serumtryptase bei fraglicher Anaphylaxie
- Weitere: Bspw. Basophilen-Aktivierungstest, Histaminfreisetzungstest und CAST-Test
- Bewertung: Nur in Zusammenschau mit Anamnese, klinischer Symptomatik, Hauttestungen und ggf. Provokationstestungen
- Weitere in-vitro-Diagnostik: Zum Ausschluss metabolischer Störungen oder genetischer Merkmale
Ein Ausschluss bzw. Nachweis von Arzneimittelüberempfindlichkeiten allein aufgrund von in-vitro-Testungen ist nicht möglich!
Bei eindeutig positivem Befund eines validierten Haut- und/oder Labortests und passender Anamnese ist die Arzneimittelüberempfindlichkeit bestätigt!
Provokationstest bei V.a. Arzneimittelüberempfindlichkeit
- Ziele
- Diagnostik einer Arzneimittelüberempfindlichkeitsreaktion (Goldstandard)
- Ausschluss von Kreuzreaktionen
- Identifikation von Ausweichpräparaten
- Indikation: Grundsätzlich muss der Nutzen das Risiko übersteigen
- Uneindeutige Anamnese, Hauttestungen und in-vitro-Diagnostik
- Verdächtige Anamnese mit negativen oder uneindeutigen Haut-/in-vitro-Testergebnissen oder nicht verfügbaren alternativen Tests
- Kinder mit V.a. makulopapulöses Arzneimittelexanthem
- Kontraindikationen
- Schwangerschaft, Stillzeit
- Risiko für sehr schwere Überempfindlichkeitsreaktionen
- Begleiterkrankungen mit erhöhtem Risiko für Überempfindlichkeitsreaktionen oder Komplikationen
- Aktuelle antiallergische oder immunsuppressive Medikation
- Vorbereitung: Aufklärung über Ziel, Risiko, Alternativen und Ablauf der Provokationstestung inkl. Placebogabe und schriftliches Einverständnis
- Zeitpunkt: Ausreichenden Zeitabstand zur Reaktion bzw. zur antiallergischen Therapie einhalten
- Testsubstanz: Vermuteter Auslöser, ggf. Placebo- und Ausweichpräparate
- Ablauf
- Ärztliche Überwachung und Notfallbereitschaft während und nach der Testung, bis keine schweren Reaktionen mehr zu erwarten sind
- Testsubstanz in aufsteigender Dosis verabreichen
- Applikationsweg sollte der Gabe entsprechen, die zu einer klinischen Symptomatik geführt hat
- Bei Kombinationspräparaten möglichst Hersteller-identische Substanz verwenden
- Möglichst einfach- oder doppelblinde Tests mit mehreren Placebogaben durchführen
- Zeitintervall zwischen den Dosen je nach Reaktionstyp: 30 min bei erwarteter Sofortreaktion, bis 2 d bei Spätreaktionen
- Beachtung der pharmakologischen Effekte des Arzneimittels
- Genaue Dokumentation der auftretenden Reaktion und ggf. weiterer Parameter
- Getestete Personen über mögliche, nach der Überwachung auftretende Reaktionen aufklären
- Bewertung und weiteres Vorgehen
- Bei Symptomen einer Arzneimittelüberempfindlichkeit: Arzneimittelüberempfindlichkeit bestätigt, Betroffene über Meidung der Substanz aufklären, Allergiepass ausstellen
- Keine Reaktion: Gabe der Substanz wieder möglich (negativer prädiktiver Wert >95%)
Eine Arzneimittelüberempfindlichkeitsreaktion kann auch nach negativer Provokationstestung auftreten, fällt dann aber i.d.R. mild aus!
Vorgehen bei bestätigter Arzneimittelüberempfindlichkeit
- Vermerk im Allergiepass
- Klinische Symptomatik
- Auslöser mit internationalem Freinamen, ggf. Handelsnamen
- Mögliche oder bekannte Kreuzallergene
- Ggf. getestete Ausweichmittel mit max. verträglicher Dosis
- Ggf. Hinweis zu Pharmakoprophylaxe
- Karenz: Ausführliche Aufklärung der Betroffenen!
- Desensibilisierung: Nur in Einzelfällen, siehe: Rapide Desensibilisierung bei Penicillinallergie
Penicillinallergie
Epidemiologie
- Prävalenz: Anamnestisch bis zu 10% der Gesamtbevölkerung [23]
- Nachweisbar in <10% dieser Fälle, d.h. bei ca. 1% der Gesamtbevölkerung
- Inzidenz: Ca. 1% pro Jahr
- Kreuzreaktivität zu Cephalosporinen: Bei max. 2% der Personen mit bestätigter Penicillinallergie
Arzneimittelallergien werden am häufigsten durch β-Lactam-Antibiotika ausgelöst!
Pathophysiologie
- Reaktionstyp: Typ-I- bis Typ-IV-Allergien
- Allergen: β-Lactam-Antibiotikum (Hapten) bindet an ein körpereigenes Plasmaprotein (meist humanes Serumalbumin) → Hapten-Trägerprotein-Komplex
- Sensibilisierung auf Seitenketten des β-Lactam-Rings: Häufiger → Kreuzreaktivität ausschließlich auf β-Lactam-Antibiotika mit gleicher Seitenkette
- Sensibilisierung auf β-Lactam-Ring: Seltener, insb. bei epidermaler Nekrolyse oder medikamenteninduzierter Vaskulitis → Kreuzreaktionen gegen die gesamte Gruppe der β-Lactam-Antibiotika möglich [24]
Die meisten Personen mit Sensibilisierung gegen ein β-Lactam-Antibiotikum reagieren nicht gegen die gesamte Klasse der β-Lactam-Antibiotika!
Bei Z.n. schweren kutanen Arzneimittelreaktionen wie Stevens-Johnson-Syndrom und toxischer epidermaler Nekrolyse sowie bei medikamenteninduzierter Vaskulitis müssen allerdings sämtliche β-Lactam-Antibiotika gemieden werden! [24]
Kreuzreaktionen der β-Lactam-Antibiotika
- Penicilline untereinander: Mittleres bis hohes Risiko
- Penicilline und Cephalosporine [24]
- Zwischen Aminopenicillinen und Aminocephalosporinen (Cefaclor, Cefalexin, Cefadroxil): Hohes Risiko [25]
- Zwischen Penicillinen und Cefuroxim, Ceftriaxon, Cefotaxim, Ceftazidim: Geringes Risiko
- Cephalosporine untereinander: Hohes Risiko
- Penicilline und Carbapeneme: Geringes Risiko [25]
- Penicilline und Aztreonam: Sehr geringes Risiko
- Cephalosporine und Carbapeneme/Aztreonam: Unzureichende Datenlage
Eine Allergie auf alle β-Lactam-Antibiotika ist selten!
Klinische Erscheinungsbilder
- Am häufigsten: Urtikaria und makulopapulöse Arzneimittelexantheme
- Weitere (Beispiele)
Besonderheiten der Diagnostik [1]
- Hauttestung bei Typ-I-Allergien: Positiver prädiktiver Wert 50–75%, negativer prädiktiver Wert >93%
- In-vitro-Diagnostik: IgE-Antikörper-Bestimmung möglich für Ampicillin, Amoxicillin, Penicillin G und Penicillin V sowie Cefaclor
- Provokationstest: Goldstandard, negativer prädiktiver Wert ca. 98%
- Direkter oraler Provokationstest: Ohne vorherige Haut- oder in-vitro-Testung
- Indikation: Kinder, ggf. auch Erwachsene mit niedrigem Risiko für eine Penicillinallergie (ohne Anzeichen einer Anaphylaxie, schwerer Hautreaktionen [z.B. mit Blasenbildung oder Hämorrhagien] oder Endorganschäden [z.B. DILI, DI-AIN, Zytopenien])
- Beispielhafte Durchführung: Unter ärztlicher Überwachung und Notfallbereitschaft zunächst Einnahme einer Füllstofftablette, dann Amoxicillin 50 mg oder 0,1 Mio. IE Penicillin V, anschließend Amoxicillin 500 mg oder 1 Mio. IE Penicillin V
- Direkter oraler Provokationstest: Ohne vorherige Haut- oder in-vitro-Testung
Auswirkungen einer dokumentierten Penicillinallergie [26]
- Eingeschränkte Auswahl von Antibiotika → Einsatz weniger wirksamer und teurerer Antibiotika mit mehr Nebenwirkungen
- Vermehrte Verwendung von Breitspektrumantibiotika
- Vermehrte Antibiotikaresistenzen → Bspw. häufigere Infektionen mit MRSA und VRE [27]
- Verzögerter Therapiebeginn von Infektionskrankheiten
- Längere Hospitalisierungszeit und erhöhte Mortalität
- Anstieg postoperativer Wundinfektionen [28]
Mögliches Vorgehen bei anamnestischer Penicillinallergie [21][23][26][29]
- Sehr niedriges Risiko für allergische Reaktionen
- Kriterien
- Isolierte unspezifische Symptome wie milde gastrointestinale Beschwerden, Kopfschmerzen, Palpitationen, Müdigkeit, Schüttelfrost/Zittern, Schwindel
- Zeitintervall zwischen Exposition und Beginn der Reaktion unpassend für allergische Reaktion
- Anamnestisch keine klinische Reaktion erinnerlich
- Unklare Reaktion in der Kindheit oder Jugend bzw. vor >10 Jahren
- Ausschließlich positive Familienanamnese für Penicillinallergie
- Penicillin wurde vorher vertragen
- Vorgehen: Delabeling durchführen , Penicillin kann verabreicht werden
- Kriterien
- Hohes Risiko für allergische Reaktionen
- Kriterien
- Anzeichen für Anaphylaxie (siehe: Charakteristische Symptome bei Anaphylaxie)
- Schwere Hautreaktionen mit Schleimhauterosionen (oral, okulär, genital) und/oder Pusteln, Blasen
- Leber- oder Nierenbeteiligung
- Blutbildveränderungen: Erythrozyten↓, neutrophile Granulozyten↓, Thrombozyten↓
- Vorgehen: Penicillinallergie bestätigen, alternatives Antibiotikum verabreichen
- Unter Beachtung der Kreuzreaktionen der Betalaktam-Antibiotika: Ggf. alternatives β-Lactam-Antibiotikum
- Bei schweren kutanen Arzneimittelreaktionen, Organbeteiligung oder Zytopenien: Nicht-β-Lactam-Antibiotika
- Kriterien
- Niedriges und mittleres Risiko
- Allergologische Abklärung, ggf. direkter oraler Provokationstest
- Bei Therapiebedarf zunächst alternatives Antibiotikum verabreichen
- Siehe auch: Diagnostik bei Arzneimittelüberempfindlichkeit
Risikoevaluierung für eine Penicillinallergie mittels PEN-FAST-Score [30][31][32]
- Ziel: Bestimmung der Wahrscheinlichkeit einer tatsächlich vorliegenden Penicillinallergie bei anamnestischer Angabe
PEN-FAST-Score [30][31] | |
---|---|
Kriterien | Punktzahl |
Reaktion vor ≤5 Jahren | 2 |
Anaphylaxie oder Angioödem oder schwere kutane Arzneimittelreaktion | 2 |
Therapeutische Maßnahmen bei Reaktion erforderlich | 1 |
Auswertung | |
Punktzahl | Risiko für positiven Allergietest auf Penicillin |
0 | Sehr gering (<1%) |
1–2 | Gering (5%) |
3 | Mäßig (20%) |
4–5 | Hoch (50%) |
PEN-FAST-Score (Rechner)
Rapide Desensibilisierung („Toleranzinduktion“)
- Indikation: Erwägen bei nachgewiesener oder dringlich verdächtiger Typ-I-Allergie auf Penicillin und Notwendigkeit der Erstlinientherapie mit Penicillinen
- Durchführung: Schrittweise Steigerung der Penicillindosis bis zur Zieldosis unter stationärer Überwachung und Notfallbereitschaft
- Effekt: Nur kurzfristige Toleranz, kein lang anhaltender Effekt
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- L27.-: Dermatitis durch oral, enteral oder parenteral aufgenommene Substanzen
- Exklusive: Allergie o.n.A. (T78.4), Kontaktdermatitis (L23-L25), Nahrungsmittelunverträglichkeit, ausgenommen Dermatitis (T78.0-T78.1), Photoallergische Reaktion auf Drogen oder Arzneimittel (L56.1), Phototoxische Reaktion auf Drogen oder Arzneimittel (L56.0), Unerwünschte Nebenwirkung o.n.A. von Drogen oder Arzneimitteln (T88.7), Urtikaria (L50.‑)
- L27.0: Generalisierte Hauteruption durch Drogen oder Arzneimittel
- L27.1: Lokalisierte Hauteruption durch Drogen oder Arzneimittel
- L27.8: Dermatitis durch sonstige oral, enteral oder parenteral aufgenommene Substanzen
- L27.9: Dermatitis durch nicht näher bezeichnete oral, enteral oder parenteral aufgenommene Substanz
- T88.-: Sonstige Komplikationen bei chirurgischen Eingriffen und medizinischer Behandlung, anderenorts nicht klassifiziert
- Exklusive:
- Komplikationen nach
- Eingriffen, anderenorts nicht klassifiziert (T81.‑)
- Infusion, Transfusion oder Injektion zu therapeutischen Zwecken (T80.‑)
- Näher bezeichnete, anderenorts klassifizierte Komplikationen, wie z.B.
- Dermatitis durch Arzneimittel und Drogen (L23.3, L24.4, L25.1, L27.0, L27.1)
- Komplikation bei
- geburtshilfliche Operationen und Maßnahmen (O75.4)
- Geräte, Implantate und Transplantate (T82–T85)
- Komplikationen bei Anästhesie
- im Wochenbett (O89.‑)
- in der Schwangerschaft (O29.‑)
- während der Wehentätigkeit und bei der Entbindung (O74.‑)
- Vergiftung durch und toxische Wirkung von Arzneimitteln, Drogen und chemischen Substanzen (T36–T65)
- Versehentliche Stich- oder Risswunde während eines Eingriffes (T81.2)
- Komplikationen nach
- T88.6: Anaphylaktischer Schock als unerwünschte Nebenwirkung eines indikationsgerechten Arzneimittels oder einer indikationsgerechten Droge bei ordnungsgemäßer Verabreichung
- Exklusive: Anaphylaktischer Schock durch Serum (T80.5)
- T88.7: Nicht näher bezeichnete unerwünschte Nebenwirkung eines Arzneimittels oder einer Droge durch indikationsgerechtes Arzneimittel oder indikationsgerechte Droge bei ordnungsgemäßer Verabreichung
- Allergische Reaktion
- Idiosynkrasie
- Überempfindlichkeit
- Unerwünschte Nebenwirkung
- Arzneimittel-:
- Reaktion o.n.A.
- Überempfindlichkeit o.n.A.
- Exklusive: Näher bezeichnete unerwünschte Nebenwirkungen von Arzneimitteln und Drogen (A00-R99, T80-T88.6, T88.8)
- Exklusive:
- Z88.-: Allergie gegenüber Arzneimitteln, Drogen oder biologisch aktiven Substanzen in der Eigenanamnese
- Z88.0: Allergie gegenüber Penicillin in der Eigenanamnese
- Z88.1: Allergie gegenüber anderen Antibiotika in der Eigenanamnese
- Z88.2: Allergie gegenüber Sulfonamiden in der Eigenanamnese
- Z88.3: Allergie gegenüber anderen Antiinfektiva in der Eigenanamnese
- Z88.4: Allergie gegenüber Anästhetikum in der Eigenanamnese
- Z88.5: Allergie gegenüber Betäubungsmittel in der Eigenanamnese
- Z88.6: Allergie gegenüber Analgetikum in der Eigenanamnese
- Z88.7: Allergie gegenüber Serum oder Impfstoff in der Eigenanamnese
- Z88.8: Allergie gegenüber sonstigen Arzneimitteln, Drogen oder biologisch aktiven Substanzen in der Eigenanamnese
- Z88.9: Allergie gegenüber nicht näher bezeichneten Arzneimitteln, Drogen oder biologisch aktiven Substanzen in der Eigenanamnese
- 57.-! Unerwünschte Nebenwirkungen bei therapeutischer Anwendung von Arzneimitteln und Drogen
- Y57.9! Komplikationen durch Arzneimittel oder Drogen: Unerwünschte Nebenwirkung von Arzneimitteln und Drogen bei indikationsgerechter Anwendung und in korrekter therapeutischer oder prophylaktischer Dosierung
- Exklusive: Unfälle bei der Verabreichungsmethode von Arzneimitteln, Drogen oder biologisch aktiven Substanzen bei medizinischen und chirurgischen Maßnahmen (Y69!)
- Y57.9! Komplikationen durch Arzneimittel oder Drogen: Unerwünschte Nebenwirkung von Arzneimitteln und Drogen bei indikationsgerechter Anwendung und in korrekter therapeutischer oder prophylaktischer Dosierung
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.
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Delabeling: Vermeintliche Penicillinallergien aufdecken (Oktober 2024)
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