Zusammenfassung
Die Psychokardiologie befasst sich mit den Wechselwirkungen zwischen psychosozialen Faktoren wie Stress, Angst oder Depression und kardiovaskulären Erkrankungen. Psychosoziale Belastungen gelten als Risikofaktoren für die Entstehung und Progression kardiovaskulärer Erkrankungen. Umgekehrt können Herz-Kreislauf-Erkrankungen auch die psychische Gesundheit von betroffenen Personen negativ beeinflussen. Daher wird ein frühzeitiges und wiederholtes Screening auf psychosoziale Risikofaktoren bei allen Patient:innen mit kardiovaskulären Erkrankungen empfohlen. Die psychokardiologische Grundversorgung kann durch hausärztliches, kardiologisches und internistisches Fachpersonal durchgeführt werden. Zu den psychokardiologischen Interventionen gehören eine patientenzentrierte Kommunikation, Psychoedukation, Bewegungstherapie, Psychotherapie und ggf. eine psychopharmakologische Behandlung.
Definition
- Interdisziplinäres Arbeitsgebiet, das sich mit den Wechselwirkungen zwischen psychosozialen Faktoren (z.B. Stress, Angst, Depression) und kardiovaskulären Erkrankungen beschäftigt [1]
- Ziel: Unterstützung von Patient:innen mit kardiovaskulären Erkrankungen in verschiedenen Krankheitsphasen
- Beteiligte: Psychokardiologische Grundversorgung kann durch hausärztliches, internistisches oder kardiologisches Fachpersonal durchgeführt werden, ggf. ergänzend durch eine fachpsychiatrische oder -psychotherapeutische Mitbehandlung
- Fokus
- Psychosoziale Faktoren als Risikofaktoren für Entstehung und Verlauf kardiovaskulärer Erkrankungen
- Negative Beeinflussung des Krankheitsverlaufs bei psychiatrischer Komorbidität
- Auslösung oder Verstärkung psychischer Symptome durch kardiovaskuläre Erkrankungen
Ätiopathogenese
Psychosoziale Risikofaktoren [1][2]
- Psychosozialer Stress (in Familie und Beruf )
- Soziale Isolation bzw. Mangel an sozialer Unterstützung
- Psychische Faktoren, u.a.
- Depression
- Angststörungen
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
- Maladaptive Persönlichkeitsmerkmale
- Feindseligkeit und Neigung zu Ärger
- Typ-D-Persönlichkeit (sog. „distressed personality“)
- Niedriger sozioökonomischer Status
Psychoneurophysiologische Mechanismen [1]
Chronische psychosoziale Belastungen und psychische Störungen führen zu psychoneurophysiologischen Anpassungsreaktionen, um die Homöostase aufrechtzuerhalten.
- Vegetatives Nervensystem
- Sympathikotone Hyperregulation oder Dysbalance zwischen sympathischer und parasympathischer Aktivität durch anhaltenden Stress
- Klinische Marker hierfür, u.a.
- Herzfrequenz ↑
- Herzfrequenzvariabilität ↓
- Herzfrequenzanstieg bei Belastung ↑↑
- Baroreflexsensitivität ↓
- Assoziationen mit psychischen Störungen
- Endokrines System
- Psychosozialer Stress → Stimulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse → Cortisol ↑ („Stressmarker“)
- Weitere Reaktionsmuster
- „Blunted reaction“: Abgeschwächte Cortisol-Antwort auf akute Stressbelastungen bei chronisch belasteten Personen
- Gestörte zirkadiane Rhythmik: Ausbleibender nächtlicher Cortisolabfall → Kardiovaskuläres Mortalitäts- und Schlaganfallrisiko ↑
- Immunsystem
- Psychischer Stress führt zur Aktivierung des Immunsystems
- Mechanismen
- Aktivierung des vegetativen Nervensystems und Freisetzung von Stresshormonen → Ausschüttung proinflammatorischer Zytokine und vermehrte Bildung von Monozyten
- Amygdala-Aktivierung → Stimulation des Knochenmarks → Verstärkte Leukozytenproduktion → Inflammatorische Gefäßinfiltration
- Folgen: Subklinische, niedrigschwellige systemische Inflammation
- Risikofaktor für Depressionen, Atherosklerose und mikrovaskuläre KHK
- Mechanismen
- Psychischer Stress führt zur Aktivierung des Immunsystems
- Systemübergreifende Interaktionen („Crosstalk“)
- Gegenseitige Beeinflussung der 3 Vermittlungswege
- Therapeutische Implikationen: Interventionen zur Förderung der parasympathischen Aktivität (bspw. durch nicht-invasive Vagusnervstimulation) können Stressbelastung und subklinische Inflammation reduzieren
Psychosoziale Belastungen und psychische Störungen beeinflussen über das vegetative Nervensystem sowie hormonelle und immunologische Prozesse das Herz-Kreislauf-System und fördern so kardiovaskuläre Erkrankungen!
Diagnostisches Vorgehen
Screening auf psychosoziale Belastung [1][2][3]
- Zeitpunkt: Möglichst früh (nach Diagnosestellung) und wiederholt
- Bei allen Patient:innen mit kardiovaskulären Erkrankungen, insb.
- Koronare Herzkrankheit
- Herzinsuffizienz
- Herzrhythmusstörungen (Palpitationen, Vorhofflimmern, ICD-Implantation)
- Arterielle Hypertonie
- Tako-Tsubo-Kardiomyopathie
- Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern
- Nach herzchirurgischen Eingriffen (bspw. koronararterieller Bypasschirurgie, Herzklappenoperation, Aortendissektion)
- Gezielte Fragen, u.a. zu
- Beruf/Bildung
- Sozialer Unterstützung
- Stress bei der Arbeit / in der Familie
- Depressiven Symptomen (Zwei-Fragen-Test)
- Angstsymptomen
- Symptomen einer PTBS
Empfohlene Screeninginstrumente (Auswahl) [3][4]
- Depression
- Angststörungen
- Posttraumatische Belastungsstörung: Impact of Event-Scale - revised (IES-R)
Alle klinisch-kardiologisch arbeitenden Personen sollten eine Qualifikation in psychokardiologischer Grundversorgung erlangen!
Bei schwerwiegenden Befunden sollte eine Überweisung an Fachkräfte der Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie erfolgen!
Psychokardiologische Interventionen
Patientenzentrierte Kommunikation und motivierende Gesprächsführung [1]
- Ziel
- Stärkung der vertrauensvollen Zusammenarbeit
- Förderung der Adhärenz
- Unterstützung gesundheitsbezogener Verhaltensänderungen
- Patientenzentrierte Gesprächstechniken
- Wichtige Prinzipien
- Warten: Pausen nach wichtigen Äußerungen zulassen
- Wiederholen: Zentrale Aussagen der Patient:innen wiederholen
- Spiegeln: Emotionen (z.B. Angst, Unsicherheit) aktiv benennen
- Zusammenfassen: Kernaussagen am Ende des Gesprächs bündeln
- Positive Effekte
- Zufriedenheit der Patient:innen ↑
- Therapieadhärenz ↑
- Stärkere therapeutische Allianz
- Teilweise bessere Behandlungsergebnisse (bspw. bzgl. Blutdruck, Schmerzen)
- Wichtige Prinzipien
- Krankheitsverständnis gezielt beeinflussen
- Chancen von Therapien betonen und Selbstwirksamkeit stärken
- Dramatisierende Krankheitswahrnehmungen behutsam relativieren
- Bei Bagatellisierung/Verleugnung: Ernsthaftigkeit verdeutlichen
- Informationen aus Internet und sozialen Medien offen ansprechen und einordnen
- Verhaltensmodifikation und Motivation
- Förderung eines gesundheitsbewussten Lebensstils (bspw. Rauchentwöhnung)
- Bei fehlender Veränderungsmotivation: Einsatz von Motivational Interviewing
Eine patientenzentrierte Kommunikation und motivierende Gesprächsführung fördern gesundheitsbewusstes Verhalten!
Nicht-medikamentöse Interventionen [1][5]
- Psychoedukation
- Sport- und Bewegungstherapie
- Effekte
- Gut belegter kardioprotektiver Effekt
- Auch wirksam bei psychischen Erkrankungen, insb. bei Depression und komorbider KHK oder Herzinsuffizienz
- Durchführung
- Strukturierte und supervidierte Trainingsprogramme
- Bereits moderates Training wirksam (bspw. 3×/Woche, 30–50 min)
- Vorteile: Bewegung reduziert zusätzlich das kardiovaskuläre Risiko (im Gegensatz zu Antidepressiva)
- Effekte
- Psychotherapie
- Ziele
- Reduktion psychischer Symptome
- Förderung von Krankheitsakzeptanz und aktiver Lebensführung
- Veränderung belastender Denkmuster und Verhaltensweisen
- Verfahren
- Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
- Dritte-Welle-Verfahren, bspw. Akzeptanz- und Commitment-Therapie
- Traumatherapie, bspw. EMDR bei PTBS
- Entspannungsverfahren, bspw. progressive Muskelrelaxation, autogenes Training
- Stressbewältigung, bspw. durch achtsamkeitsbasierte Stressreduktion
- Ggf. internetbasierte Interventionen
- Ziele
Körperliche Bewegung hat sowohl einen kardioprotektiven als auch einen antidepressiven Effekt!
Psychopharmakotherapie
Allgemeine Grundsätze [1][5]
- Sorgfältige Risiko-Nutzen-Abwägung
- Medikamentengabe nur unter regelmäßigen Kontrolluntersuchungen, siehe
Antidepressiva [1][5]
- Einsatz: Gemäß Indikation, u.a.
- Substanzen
- Vorzugsweise SSRI
- Kein Einsatz von Substanzen mit hohem Risiko für kardiovaskuläre Nebenwirkungen, insb. Trizyklika
- Nebenwirkungen, siehe auch
Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI)
- Wirksamkeit
- Bei Depression und KHK: Moderater bis guter antidepressiver Effekt
- Bei Depression und Herzinsuffizienz: Keine/nur geringe Wirksamkeit
- Risiken, insb.
- QT-Zeit-Verlängerung
- Prinzipiell bei allen SSRI möglich
- Höheres Risiko bei (Es‑)Citalopram: Ventrikuläre Arrhythmien, Torsade de Pointes
- Erhöhtes Blutungsrisiko
- Beeinträchtigung der Thrombozytenaktivierung und Thrombozytenaggregation
- Vorsicht bei gleichzeitiger Gabe gerinnungshemmender Medikamente
- Gleichzeitige Gabe von NSAID vermeiden
- QT-Zeit-Verlängerung
Übersicht kardiovaskulärer Risiken von Antidepressiva (Auswahl) [1][6] | |||
---|---|---|---|
Substanzgruppe | Substanzen | (Kardiovaskuläre) Nebenwirkungen | Kardiovaskuläres Risiko |
Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) |
| ++ | |
| |||
| |||
| |||
| 0 | ||
Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSNRI) |
| +++ | |
Noradrenerges und spezifisch serotonerges Antidepressivum (NaSSA) |
| + | |
Selektive Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SNDRI) |
| + | |
Trizyklika |
| ++++ | |
Melatonin-Analoga |
| 0 | |
Legende |
|
Die Gabe von Antidepressiva bei Herzinsuffizienz gilt aufgrund unzureichender Wirkung und potenziell negativer Effekte (Polypharmazie und metabolische Nebenwirkungen) als Ultima Ratio. Alternativen (bspw. Bewegungstherapie, Psychotherapie) sollten bevorzugt eingesetzt werden! [1][3]
Bei kardialen Vorerkrankungen (insb. KHK, Erregungsleitungsstörungen und Arrhythmien) sollte nicht mit Trizyklika behandelt werden!
Antipsychotika [1]
- Einsatz: Gemäß Indikation, u.a. psychotische Störungen, bipolare Störungen (siehe auch: Antipsychotika - Typische Indikationen)
- Einsatz zur Augmentation bei Depression wird nicht empfohlen
- Nebenwirkungen, siehe
Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie rät von einer Augmentation mit Antipsychotika (oder auch Lithium) bei Depression und kardiovaskulärer Vorerkrankung aufgrund der Risiken (u.a. QT-Zeit-Verlängerung, enge therapeutische Breite) ab! [1]
Benzodiazepine [1][5]
- Indikationen, u.a.
- Risiken
- Erhöhtes Sturzrisiko, insb. bei älteren Patient:innen
- Siehe auch: Benzodiazepine - Nebenwirkungen
Eine längerfristige Gabe von Benzodiazepinen sollte aufgrund des Abhängigkeitspotenzials und eines erhöhten Risikos für die Entwicklung einer PTBS nach Trauma vermieden werden! [1]
Collaborative Care
- Konzept: Koordination verschiedener Therapieansätze (z.B. supportive Gespräche, Psychotherapie, Antidepressiva) parallel zur kardiologischen Basistherapie [1]
- Bedarfsgerechte Auswahl der Verfahren
- Orientierung an den Präferenzen der Betroffenen
- Zentrale Rolle: Care Manager (i.d.R. spezialisierte Pflegekräfte) [1]
- Screening auf depressive Symptome
- Kontinuierliche Begleitung
- Schnittstelle zwischen Patient:in, Psychotherapie und Haus-/Fachärzt:innen