Zusammenfassung
Sensibilitätsstörungen sind ein häufiger Beratungsanlass in der hausärztlichen Praxis und können durch eine Vielzahl von Ursachen bedingt sein. Für die differenzialdiagnostische Einschätzung ist daher eine differenzierte Beurteilung im Rahmen einer systematischen Anamnese und körperlichen Untersuchung essenziell. Zu berücksichtigen sind hierbei insb. die zeitliche Dynamik des Auftretens, die betroffenen Sinnesqualitäten, objektivierbare neurologische Begleitsymptome (bspw. Paresen oder Reflexstörungen) sowie die anatomische Ausdehnung. Hierbei ist zu klären, ob es sich um eine Hemisymptomatik handelt, ob es einen Bezug zu einem radikulären oder peripheren Versorgungsgebiet gibt und ob die Ausdehnung der Beschwerden neuroanatomisch plausibel ist. Ziel dieses Kapitels ist es, eine Orientierungshilfe für die initiale Vorstellung zu geben und strukturelle Läsionen des zentralen oder peripheren Nervensystems identifizieren zu können, um so eine fachspezifische und ggf. notfallmäßige Weiterbehandlung einzuleiten.
Definition
- Sensibilität
- Oberflächensensibilität
- Tiefensensibilität (Propriozeption)
- Sensibilitätsstörung, Einteilung nach
- Sensibler Qualität
- Schädigungsort
- Zentrale Sensibilitätsstörungen: Mit Bezug zur Somatotopie des sensiblen Kortex , sensibler Bahnsysteme oder Kerngebiete
- Periphere Sensibilitätsstörungen: In den Grenzen des sensiblen Versorgungsgebietes eines peripheren Nerven oder einer Nervenwurzel bzw. mehrerer Nerven bei Plexusschädigung
Diagnostik
Anamnese
Zeitliche Einordnung
- Seit wann besteht die Symptomatik?
- Mit welcher Dynamik hat sie begonnen?
- Sind die Symptome erstmalig aufgetreten?
- Handelt es sich um eine durchgehend vorhandene oder episodenartig wiederkehrende Symptomatik?
- Gibt es beschwerdefreie Intervalle?
- Wie lange dauern ggf. einzelne Episoden?
Lokalisation
- Wo besteht die Sensibilitätsstörung und mit welcher Ausdehnung?
- Ein- oder beidseitig?
- Liegt ein sensibles Niveau vor?
- Auf radikuläre oder periphere Innervationsgebiete begrenzt?
- In wechselnder oder wandernder Lokalisation und/oder Ausdehnung?
Betroffene sensible Qualitäten
- Verringerte Wahrnehmung (Negativsymptom) oder Fehlwahrnehmung (Positivsymptom)?
- Störung des Berührungsempfindens?
- Störung des Schmerzempfindens?
- Störung des Temperaturempfindens?
- Sind evtl. unterschiedliche sensible Qualitäten in unterschiedlichen Lokalisationen betroffen?
Begleitumstände/-symptome
- Vorerkrankungen, die mit Sensibilitätsstörungen einhergehen können?
- Falls solche vorliegen: Warum erfolgt jetzt eine (notfallmäßige) Vorstellung?
- Auslöser oder lindernde Faktoren ?
- (Prädisponierende) Medikamente?
- Begleitende Symptome? Insb.
- Kraftverlust der von der Sensibilitätsstörung betroffenen oder anderer Körperregionen
- Myatrophie in den betroffenen Regionen
- Gleichgewichtsstörung , Gangstörung mit Fallneigung bis hin zu Stürzen
- Unbemerkte (Bagatell‑)Verletzungen in den von der Sensibilitätsstörung betroffenen Körperregionen
- Hautveränderungen
Körperliche neurologische Untersuchung
- Vorgehen
- Mindestens orientierende neurologische Untersuchung und detaillierte Untersuchung der betroffenen Region
- Immer im Seitenvergleich sowie
- In Bezug zu radikulären Dermatomen und sensiblen Innervationsgebieten peripherer Nerven
- Mindestens orientierende neurologische Untersuchung und detaillierte Untersuchung der betroffenen Region
- Untersuchung der Sensibilität : Prüfung der
- Ästhesie (Berührungsempfinden)
- Pallästhesie (Vibrationsempfinden)
- Propriozeption (Tiefensensibilität)
- Algesie (Schmerzempfinden)
- Thermästhesie (Temperaturempfinden)
- Für detaillierte Informationen zu den Untersuchungsschritten siehe: Neurologische Untersuchung - Sensibilität
- Muskeleigenreflexe
- Muskulatur
- Standprüfung und systematische Ganguntersuchung mit Fokus auf Gleichgewicht (wenn möglich)
- Für die Interpretation der Untersuchungsbefunde siehe: Neuroanatomische Zuordnung von Sensibilitätsstörungen
Differenzialdiagnosen
Bewertung von Sensibilitätsstörungen
Sensibilitätsstörungen müssen immer in Zusammenschau von zeitlicher Dynamik und Lokalisation bewertet und bei rascher Symptomatik i.d.R. schnell abgeklärt werden!
Klinisch-pragmatische Bewertung von Sensibilitätsstörungen (Beispiele) – nach zeitlichem Auftreten | ||||
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Einordnung | Leitbefund | Zusätzliche Befunde (Beispiele) | Schwerwiegendste Verdachtsdiagnosen (Beispiele) | Weiteres Vorgehen |
Nach zeitlichem Auftreten |
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Klinisch-pragmatische Bewertung von Sensibilitätsstörungen (Beispiele) – nach Lokalisation | ||||
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Einordnung | Leitbefund | Zusätzliche Befunde (Beispiele) | Schwerwiegendste Verdachtsdiagnosen (Beispiele) | Weiteres Vorgehen |
Nach Lokalisation |
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AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- R20.-: Sensibilitätsstörungen der Haut
- Exkl.: Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen (F44.6), Psychogene Störungen (F45.8)
- R20.0: Anästhesie der Haut
- R20.1: Hypästhesie der Haut
- R20.2: Parästhesie der Haut
- Ameisenlaufen, Kribbelgefühl, Nadelstichgefühl
- Exkl.: Akroparästhesie (I73.8)
- R20.3: Hyperästhesie der Haut
- R20.8: Sonstige und nicht näher bezeichnete Sensibilitätsstörungen der Haut
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.